Düstere Entschlossenheit aus dem tiefsten Kellerloch
Brettharte Klänge zum Abschluss des zweitägigen "M´era Luna" -Festivals am Hildesheimer Flughafen / Tanzbeats, Punk und rabenschwarzer Metal

_HILDESHEIM. " Take me to Rome in
the Rain!" Diese Grufties sind schon ein
komisches Völkchen. Endlich scheint die
Sonne, und ihnen fällt nichts Besseres
ein, als ein regnerisches Rom herbei zu
sehnen. Phillip Boa lässt sich tief hinein
sinken ins melancholische Pathos seines
eigentümlichen
____Liebeslieds____über
blasphemische Regenmäntel - und dabei
funkelt im die späteNachmittagssonne
direkt ins Gesicht. Unter ihm im Publi-
kum ist bereits jeder zweite Nacken
leuhtend rot.
_Der zweite Tag beim großen Fest der
Schwarzkutten - Gemeinde ist noch hei-
ßer als der erste, vielleicht ist das der
Grund, warum Boas Konzertbeginn so
zurückhaltend wirkt. Dafür verfügt der
exzentrische Sänger und Songwriter, der
beim "Zillo"- Open-Air vor vier Jahren
eine erstaunliche Energie-Ladung über

Hildesheim ausgeschüttet hat, am
Schluss über umso mehr Reserven.
Mit Leonard Cohens "First We Take Man-
hattan" im Trip-Hop-Gewand leiten Boa
und sein "Voodoo-Club" einen furiosen
Endspurt vom Electro zum Punk und zu-
rück zum Disco ein.
_Wenn Boa wollte, könnte er wohl pro-
blemlos einen Pop-Hit schreiben. Aber
dafür ist der Mann zu kompliziert,
"wisst ihr, ich bin kein Entertainer".
Seine Refrains sind reinste Ohrwürmer,
aber die Oberfläche der Songs ist nie ra-
diotauglich poliert, sondern rau und
sperrig. "So what?", fragt Boa provo-
kant. Ein rotziges "Kill Your Idols" ist
der passende Schlusspunkt seines Sets.
_Eine ähnlich unangepasste Persönlich-
keit ist Anne Clark. Literatur und Musik
sind gleichermaßen ihr Steckenpferd,
und seit fast 20 Jahren lotet sie die Mög-
lichkeiten aus, beides miteinander zu
vereinen. Das hat nicht immer gut funk-
tioniert: Zu spröde, zu viel gesprochenes
Wort in der Musik.
_Dass Anne Clark andererseits nicht
nur etwas für die Intellektuellen unter
den Musikfans ist, hat sie schon vor drei
Jahren beim "Zillo"-Festival eindrucks-
voll demonstriert. Auch in diesem Jahr
bei "M´era Luna" gehört ihr Auftritt zu
den stärksten Momenten des Musikma-
thons. Der Computer liefert die Groove-
Basis, die von live gespielten Basslinien
und Percussions zusätzlich aufgepowert
wird. Unbedingt Dancefloortauglich.
Fans vor der Bühne
Die Gitarre setzt sparsame Akzente, und
darüber liegt Clarks hypnotisch unterkühlter Sprech-
gesang. Übermäßig cool ist die britische Sängerin
mit der karierten Hose sonst aber durchaus nicht:
"Hier hat sich also der Sommer versteckt.In Deutsch-
land", ruft sie fröhlich schwitzend in die tanzende
Menge. Aus Nicht-Gruftie-Sicht liefert Anne Clark
die geschlossenste und eindrucksvollste Darbietung
des Festivals. Gern hätte man sie ausführlicher ge-
hört - am liebsten abends und mit passender Ligth-
show. Doch diese Ehre bleibt zwei Bands vorbe-
halten, die freilich in der Gunst der Finster-Fans
höher rangieren.
_Carl McCoy und die "Fields Of The Nephilim"
melden sich nach zeitweiliger Trennung mit einem
eindrucksvollen Set zurück. In klassischer Rock-
besetzung - Gitarre, Bass, Schlagzeug, Gesang -
und mit relativ wenig elektronischer Hilfe spielen
sie ihre Songs mit düsterer Entschlossenheit. Allen
voran Carl McCoy dessen rabenschwarz hinge-
graunzte Aufforderung "Lay down with me" kein
sonderlich romantisches Stelldichein erwarten lässt.
_Vermutlich hat McCoy eigentlich eine wunderbar
erdige Bluesstimme. Auch könnte man viele Songs
als schöne, eingängige Rocknummern arrangieren.
Doch die Briten sind dunkel wie die Nacht, dabei
bretthart, jeder Ton scheint aus einem modrigen
Kellerloch hervorzukriechen. Andererseits klingt
ihre Musik melodischer als Carl McCoys kompro-
missloses Soloprojekt "Nephilim" 1996 an gleicher
Stelle.


PHILLIP BOA
Phillip Boa
Das deutsche "Project Pitchfork" ist
stilistisch gar nicht so weit von den
"Fields" entfernt. Allerdings kommt die
Gitarre bei ihnen aus dem Computer -
wie das meiste andere auch. Die beiden
Keyboarder auf der Bühne und selbst
der Schlagzeuger sind eher eine Staffage
für den extrovertierten Sänger Peter
Spilles.
Peter Spilles
PROJECT PITCHFORK

Trotzdem geht das Konzept auf. Und
das heißt: Dark Metal goes Electro. Hef-
tig und gnadenlos, "one by one", zucken
die Beats aus den Lautsprechern, wäh-
rend Spilles röchelnd über den Sinn des
Lebens philosophiert. Eines werden die
begeisterten Fans aber nicht unter-
schreiben. "Wischt diese Stadt von der
Landkarte! Dies ist das Ende."
Und wo sollen sich dann 25 000 inter-
nationale Grufties nächstes Jahr zur Fa-
milienfeier treffen? Etwa auf dem Expo-
Gelände? Nichts da.
2001 gibt es eine Neuauflage von "M´era
Luna", und zwar "auf jeden Fall in Hildes-
heim", wie die Veranstaltungsagentur
"Scorpio" mitteilt. Das diesjährige Fes-
tival habe Lust auf mehr gemacht, sagt
"Scorpio"-Sprecherin Elke Ulferts.
Super Wetter, keine Probleme, weder im
künstlerischen Bereich noch mit den Be-
suchern, dazu ein satter Besucherrekord.
Ulferts: "Das war richtig,richtig gut.
Wir freuen uns wahnsinnig."

QUELLE: BILD Zeitung Hannover, vom
14.Aug.2000

Im Herzen retro

Dem Normalo-Bürger mag der Gruf-
tie ausgefallen, schrill, teilweise be-
drohlich erscheinen. Doch im Grunde
ihres Herzens sind die Vertreter die-
ser Gattung freundliche Menschen,
denen es vor allem um eines geht: dass alles immer schön beim Alten
bleibt.
__Die Szene ist Anfang der 80er
Jahre entstanden, und seither hat
sich nichts Wesentliches mehr getan.
Am meisten werden immer noch die
alten Helden bejubelt, an diesem Wochenende die "Sisters Of Mercy",
"Mission" oder "Fields Of The Ne-
philim". Von den Newcomern kommt
der am meisten an, der Altbewährtes
besonders geschickt neu aufkocht.
Siehe "HIM", Leute, die ihr Konzept
flexibel halten wie Philip Boa oder
Anne Clark, spielen vor gelichteten
Reihen.
__Retro bis aufs purpurne Blut sind
die Grufties, und vielleicht ist das der
Grund für den Erfolg des Festivals.
Keiner muss unliebsame Überrasch-
ungen fürchten. Vielmehr darf er sich
darauf freuen, die alten Gesichter wie-
der zu sehen. Auf und ebenso vor der Bühne. Solange die 80er Bands
sich nach jeder Auflösung wieder neu gründen, kann gar nichts schief
gehen. Long Live "M´era Luna"!