Fans vor der Bühne/Ville Valo
Schattenwesen im Gegenlicht-Gewitter
"M´era Luna": "Sisters Of Mercy" sind das Highlight des ersten Festivaltages, doch die Fans geraten erst spät in Wallung
Hildesheim. Die letzten Takte des
"Radetztky-Marsches" fegen über
das Pflaster des Marktplatzes, das
Publikum fordert begeistert Zugabe.
Die Stimmung gestern mittag beim
Platzkonzert des Bundesgrenzschutz
Orchesters ist auf dem Höhepunkt.
Etwas abseits steht und staunt ein
Trio mit knallroten Haaren, das ei-
gentlich für ein anderes Open Air
nach Hildesheim gekommen ist.
Die T-Shirts lassen keine Zweifel:
Das sind Fans von "Project Pitch-
fork", die abends das zweitägige
"M´era Luna"-Festival beschließen
werden. Der Groteil der Finsterge-
meinde ist freilich auf dem Flug-
platz gebliben. Ist mit "This Cor-
rosion" als Ohrwurm aus dem Zelt
gekrochen, nachdem es die Morgen-
sonne in eine Sauna verwandelt hat.
Manche hören um diese Zeit mit
"Illuminate" bereits die dritte Band,
die meisten lassen es jedoch ruhig
angehen der erste Festivaltag war
20 Bands und 13 Stunden Musik
nonstop.
Mit dem mitternächtlichen Auftritt
der "Sisters Of Mercy" als Höhe-
punkt und ihrem 13 Jahre alten Hit
als Punkt auf dem i. "Sing This Cor-
rosion to me", das brauchte Front-
man Andrew Eldritch nicht zweimal
zu sagen. Den Soundtrack für die
Sommernacht sangen alle gemein-
sam.
Doch der satte Abschluss konnte
kaum darüber hinwegtäuschen, dass
die Steine vorher nicht recht ins
Rollen gekommen waren. Selbst ein
betäubend gute s"Temple Of Love"
hatte nur großen Applaus hervorge-
rufen, mehr nicht. Wer frenetisch
Jubel eines ultra-raren " Sisters"-
Auftritts erwartet hatte, sah sich
getäuscht.
Vielleicht lag´s am Sound, dem über
weite Strecken der letzte Druck
fehlte. Vielleicht wollten die Fans
noch mehr alte Feger hören , wobei
__Songs wie "On The Wire", "Mo-
ther Russia" oder "Walk Away"
durchaus geschickt übers Programm
verteilt waren.
Auch Andrew Eldritch in bester
_Konzertlaune. __Er flüsterte und
grummelte, schrie und heulte, ange-
feuert von den beiden Gitarristen
Adam Pearson und Mike Varjak -
und natürlich "Doktor Avalanche",
dem legendärem Drum-Computer
der "Sisters Of Mercy". Das alles
vor unaufhörlichem Gegenlicht-Ge
witter und im Nebel. Die "Sisters"
präsentierten sich als gesichtslose
Wesen aus einer Schattenwelt.
Ein bisschen Lichtshow hätte
sicher auch dem 1985er "Sisters"-
Ableger "The Mission" gut bekom-
men. Die Band um Wayne Hussey
und Craig Adams wurde zwar nach
langer Funkstille von den Fans
glücklich empfangen, andere nutz-
ten die Zeit jedoch zum verspä-
teten Mittagsschläfchen.

Marc Almond
MARC ALMOND

Andrew Eldritch
ANDREW ELDRITCH (SOM)

Die zurückliegenden zehn Jahre
sind spurlos an "The Mission" vor-
beigezogen, die Band klingt noch
genauso mainstream-rockig-lang-
weilig wie eh und je. Wenigstens er-
sparten sie dem Publikum ihre un-
erträgliche Version von Neil
Youngs "Like A Hurricane".
Auch die zwei weiteren Headliner
des ersten Tages "HIM" und "And
One", waren keine Erleuchtung.
"And One´s" klinischer Synthie
Pop im Stil der 80er Jahre stampfte
gleichförmig durch die Lautspre-
cher, ungefähr so aufregend wie
Sänger Steve Naghavis Durchsage
zum Ende ihres Gigs: "Ähm,
schönes Wetter heute, oder?"
__Dann schon lieber introvertierte
Nachwuchsstars vom Schlage Ville
Valos. Der "HIM"-Sänger sprach so
gut wie gar nicht mit dem Publikum,
und wenn, nuschelte er seine
Sprüche so betont desorientiert-
lustlos ins Mikro, dass kein Wort
zu verstehen war. Ansonsten zeigte
sich Valo jedoch gut bei Stimme und schüttete fässerweise Melan-
cholie und Theatralik in die Pop-

getränkten Metal-Riffs der Skan-
dinavier. Der Basslastige Sound-
brei hielt die Begeisterung jedoch
in Grenzen, auch wenn die Metal-
Fassung von Chris Isaacs "Wicked
Games" ziemlich lustig klang.
Bester Act des Nachmittags war
zweifellos Marc Almond. Mit Stü-
cken wie "Something´s Gotten
Hold Of My Heart", "Days Of
Pearly Spencer" oder "Say Hello
Wave Goodbye" (aus alten "Soft
Cell"-Tagen) ließ er auch musika-
lisch die Sonne scheinen. Und
anders als viele seiner Kollegen,
denen Kommunikation offenbar
nicht ins Image passt, gelang ihm
auch der Kontakt zum Publikum:
"Oh, ihr singt viel besser als ich",
bedankte er sich für dessen laut-
starke Unterstützung. "Tainted
Love" hat er nicht gespielt.
"Gott sei Dank", befanden die
Fans, "sonst wär´s ja nur halb so
gut gewesen."
Derweil ging nebenan im Hangar
bei "Haggard" so richtig die Post
ab. Schwermetall und Klassik-
Streicher verbanden sich in der
rappelvollen Flugzeughalle zu
einem ohrenbetäubend Getöse, und
das Publikum geriet darüber völlig
aus dem Häuschen.
Ähnlich gut ließ sich später auch
der Auftritt von "Tiamat" an,
doch dann leerte sich der Hangar
zusehends, weil draußen die große
Bühne für den Topact vorbereitet
wurde. Vielleicht sollten die "Sis-
ters" beim nächsten Mal in der
Halle auftreten.

QUELLE: Hildesheimer
Allgemeine Zeitung 14.08.2000